Lily King – Euphoria
Als wir beide uns durch die Verlagsvorschauen durchblätterten, stand recht schnell ein Buch fest, dass unbedingt in die Top-Ten-Herbsthighlights rein musste: „Euphoria“ von Lily King. Nachdem ich es nun gelesen – nein, verschlungen – habe, kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass es seinen Platz auf der Liste mehr als verdient hat.
Gregory Bateson, Margaret Mead, and Reo Fortune, Sydney, July 1933 Quelle: monoskop.org
Lily King hat sich die berühmte Ethnologin Margaret Mead als Vorbild für ihre Protagonistin Nell Stone genommen, die als eine der Mitbegründerinnen der Kulturanthropologie und als entschiedenste Vertreterin des Kulturrelativismus gilt. Da Maike und ich beide Kulturanthropologie studiert haben, ist uns Mead natürlich ein Begriff und uns war auch ohne Leseprobe klar, dass dieses Buch unheimlich spannend werden muss, schließlich kennen wir die Forschungen von ihr und auch einiges über ihr Privatleben. Kurz: King hat sich (aus unserer Sicht) das perfekte Vorbild für ihren Roman gesucht.
[lightgrey_box]Kurzinfo: Kulturanthropologie ist die Erforschung des Sozialverhaltens im Verhältnis zur eigenen Kultur. Es geht darum, Sitten und Gebräuche, Verhaltensweisen und Tabus einer Kultur in einen größeren Kontext einzuordnen und zu interpretieren.Kulturrelativismus ist die Annahme, dass Moral, Tabus und ethisches Verhalten auf die Kultur zurückgehen, aus der sie stammen. Damit wendet man sich von der Idee ab, dass es EINE für alle Menschen geltende Moral gibt.[/lightgrey_box]
„Margaret Mead standing between two Samoan girls,“ ca. 1926, Library of Congress, Manuscript Division (50a) (accessed October 23, 2009)
Natürlich ist dieses Buch auch ohne ethnologisches Hinterwissen ungemein mitreißend. Das liegt zum Einen an der Grundkonstellation zwischen dem Forscherehepaar Nell Stone und Shuyler Fenwik und dem depressiven Andrew Benkson, die auf verschiedensten Ebenen spannungsgeladen ist. Zum Anderen an dem Setting, das in den unerschlossenen Sümpfen Neuguineas der 1930er angesiedelt ist. An diesem unwirtlichen Ort sind sie die einzigen Menschen aus der westlichen Zivilisation.
Nell, als einzige Frau in der Runde ist zugleich auch die erfolgreichste Forscherin unter ihnen. Sie hat mit ihrem letzten Buch über das Sexualleben einiger Stämme für großes Aufsehen gesorgt – auch außerhalb der Wissenschaft. Deshalb sind es auch ihre Forschungsgelder, die die jahrelange Feldforschung von sich und ihrem Mann finanzieren. Die Spannungen zwischen dem Ehepaar sind so natürlich nicht zu vermeiden und ihre bisher eher ergebnislosen Forschungen wirken sich zusehends auf die Ehe der beiden aus.
Auf Neuguinea sind sie schon eine geraume Weile und haben bereits bei zwei Stämmen gelebt und geforscht, als sie Benkson das erste Mal begegnen. Bisher sind sie ihm bewusst aus dem Weg gegangen – wollen ihm „seinen“ Teil des Landes nicht streitig machen, doch sie sind müde und erschöpft, ausgezehrt und leiden unter verschiedenen Krankheiten. Kurz: Sie sehnen sich beide nach einem Stückchen westlicher Kultur und Heimat. Benkson ist tatsächlich ganz und gar nicht abgeneigt über das Treffen mit dem berühmten Forscherpaar. Halb wahnsinnig vor Einsamkeit und Selbstzweifel, hat er erst kurze Zeit zuvor versucht, sich das Leben zu nehmen. Er ist eher ein halbherziger Forscher, zweifelt ständig an sich, seinem Forschungsgebiet und seiner Methodik. Gleichzeitig ist seine Wahl eines Forschungsgebiets am Rande der zivilisierten Welt auch eine Flucht vor den eigenen Geistern. Die drei jungen Menschen treffen genau zu dem Zeitpunkt aufeinander, als sie einander am Nötigsten brauchen. Ihre Forschungen geraten alle ins Stocken und es ist der gegenseitige Austausch und die frischen Perspektiven der anderen, die ihnen gegenseitig neuen Auftrieb geben. Dabei geraten auch die Gefühle und Sehnsüchte in Aufruhr.
Ungemein faszinierend fand ich die Wahl der Erzählperspektive. Zwar wird im ersten Kapitel eine neutrale Perspektive gewählt, die Nell und ihre Empfindungen in der Vordergrund rückt, doch ab dem zweiten Kapitel wird auf Benkson und mit ihm in eine viel empathischere, dichte Erzählweise gewechselt. Bankson schildert die Begegnungen mit Nell und ihrem Mann aus seiner Sicht, doch ist klar, dass nicht er, sondern Nell die Protagonistin ist. Ihre Tagebucheinträge, die sich sehr stark an Originaleinträgen von Margaret Mead und ihrem sehr klaren, ruhigem Ton orientieren, unterfüttern seine teilweise mitreisenden Erzählpassagen. Die Einträge geben Nell eine Stimme und zeigen zugleich die Forschungsmethoden der damaligen Feldforschung auf.
Insgesamt gewährt der Roman einen tiefen, wenn auch nur von Mead geliehenen, Eindruck in die Stammeskulturen Neuguineas. Gemeinsam mit dem sehr eindringlichen Erzählstil und dem bis zum zerreißen gespannten Beziehungsgeflecht der drei Protagonisten, ist es gerade die anschauliche Beschreibung der exotischen, teilweise schockierend und für uns unverständlich brutalen Kulturen, die eine enorme Sogkraft entwickeln.
Fazit
Wenn ich diesen Roman mit nur einem Wort beschreiben sollte, wäre es wohl: Sog. Denn Lily King gelingt es, dass man in eine völlig fremde Welt eintaucht, sich den Abgründen der fremden, aber schlussendlich auch der eigenen Kultur stellt.
Den Platz unter den Herbsthighlights hat sich dieses Buch gesichert – ebenso unter meinen Jahreshighlights.
Eure Mareike
Blick in andere Kulturen – Was andere Blogger zu Euphoria sagen
Feiner Buchstoff
Astrolibrium
Nur Lesen ist schöner
Zum Buch:
Lily King – Euphoria
Verlag: C.H. Beck
Gebunden, 262 Seiten, 19,95 €
Nanni
Hey,
„Euphoria“ spricht mich auch total an! Dank deiner Rezi nun noch mehr.
Sehr schön, wie du den Roman in deiner Rezension dargestellt hast.
Viele liebe Grüße
Nanni
Mareike
Liebe Nanni,
vielen Dank für dein Lob!
Es ist mir wahnsinnig schwer gefallen, meine Begeisterung in strukturierte Bahnen zu lenken. Darum freut es mich sehr, dass die Rezension gefällt :)
Liebe Grüße
Mareike
Steffi
Wunderbar gelungene Zeilen zu einem euphorischen Werk, von dem ich tatsächlich bis dato nur Passagen kenne und noch nicht vollständig eintauchen konnte. Die Lesung mit Lily King in München war ein wirklich euphorisches Event, bei dem man gar nicht darum herum kam, Begeisterung für diesen Roman zu verspüren. Ich danke dir/euch herzlich für die Verlinkung meines Beitrags und kann nur hoffen, dass ich den euphorischen Lesestoff bald zwischen die Finger bekomme.
Herzliche Wochenendgrüße
Steffi
Tintenelfe
Als die Buchhändlerin in unserem Lesekreis letztens von „Euphoria“ sprach, stand für mich auch gleich fest, dass ich das Buch gern lesen möchte. Ich kenne Margaret Mead durch mein Studium und muss sagen, dass das die spannenderen Vorlesungen waren. :-D Mal sehen, wann ich dazu komme. Im Moment habe ich leider das Gefühl, das meine Lesezeit schrumpft.
Liebe Grüße
Mona